In Helen Frankenthalers Malerei entfaltet sich ein komplexes Spannungsverhältnis zwischen flacher Bildoberfläche und räumlicher Tiefe, das durch das Zusammenspiel von Linien und Flächen entsteht. Nach ihrer Hochzeit mit Robert Motherwell im Jahr 1958 besuchte das Paar in seinen Flitterwochen die prähistorischen Höhlen von Lascaux in Frankreich und Altamira in Spanien – eine Erfahrung, die Frankenthalers künstlerische Entwicklung nachhaltig prägte. Ihre in den Jahren 1959 und 1960 entstandenen Arbeiten wurden lange wenig beachtet und selbst in John Elderfields umfassender Monographie nur am Rande diskutiert, obwohl sie eine bedeutende Phase in ihrer künstlerischen Entwicklung darstellen. Wie in Cave Memory (1959), das sich heute ebenfalls in der Sammlung Reinhard Ernst befindet, treten in diesen Arbeiten leuchtende, deckende Hintergrundflächen und gezeichnete Linien auf ein Ebene.
Helen Frankenthaler (1928–2011)
Untitled, 1959/60
Aktuell ausgestellt: Ja (Helen Frankenthaler moves Jenny Bronsinksi, Ina Gerken, Adrian Schiess)
Material: Öl und Kohle auf Leinwand
Größe: 228 x 177,6 cm
Inv-Nr.: B_577
Bildrechte: VG Bild-Kunst, Bonn; Copyright: Helen Frankenthaler Foundation, New York
Schlagworte:
Helen Frankenthaler Foundation, New York;
Vorbesitz: Gagosian Gallery, Paris;
Vorbesitz: The Gerald Fineberg Collection
Ankauf: Sammlung Reinhard Ernst, 2023
Helen Frankenthaler moves Jenny Brosinski, Ina Gerken, Adrian Schiess, 26.10.2025–22.02.2026
Charakteristisch für Frankenthalers Malerei jener Jahre ist der Einsatz der drei Primärfarben Blau, Rot und Gelb in Kombination mit erdigen Braun- und Schwarztönen. Zugleich löst sich die Künstlerin von der für sie charakteristischen Soak-Stain-Technik und lässt stattdessen die Flächen auf einer weiß grundierten Leinwand stehen. Dadurch steigert sie die Leuchtkraft der Farben, erzeugt Übermalungen und eine bewegte Oberfläche. Diese Vorgehensweise lässt das Werk Untitled so kraftvoll wirken und unterscheidet es deutlich von den zarten, eingesickerten Farben früherer Arbeiten. Für Elderfield bilden Frankenthalers „grobe und wilde Werke“[1] der Jahre 1959 bis 1960, den Ausgangspunkt für ihre ruhigeren Arbeiten der Jahre 1961-62. Der spontane Duktus ist dabei bewusst intendiert und spielt für Helen Frankenthaler zeitlebens eine wichtige Rolle: „Es ist entscheidend zu wissen, wann man aufhören muß. […] Sehr oft buchstabiert der Künstler für den Betrachter etwas aus, das stattdessen bewußt oder unbewußt sich im Zusammenhang ergeben sollte. Ein Gemälde, wie stark es auch immer bearbeitet ist, sollte eine Art Unmittelbarkeit, eine Frische und Knappheit besitzen, die es dem Betrachter überlassen, den Rest zu ergänzen. Wenn man es vollkommen ausbuchstabiert, erhält man oft ein sehr durchdachtes Gemälde, das zu viel Beschäftigung mit dem Publikum verrät.“[2]
[1] John Elderfield, „Think Though, Paint Though, Move On: Helen Frankenthaler. After Abstract Expressionism, 1959–1962“, in: Helen Frankenthaler. After Abstract Expressionism, 1959─1962, S. 5─23, hier S. 6.
[2] Aus: „Ein Gespräch, Helen Frankenthaler und Julia Brown“, in: After Mountains and Sea: Frankenthaler 1956–1959, Ausst.-Kat. Guggenheim New York/Bilbao/Berlin, Ostfildern-Ruit 1998, S. 29–49, hier S. 38.
John Elderfield, „Think Though, Paint Though, Move On: Helen Frankenthaler. After Abstract Expressionism, 1959–1962“, in: Helen Frankenthaler. After Abstract Expressionism, 1959─1962, S. 5─23, hier S. 6.
„Ein Gespräch, Helen Frankenthaler und Julia Brown“ in After Mountains and Sea: Frankenthaler 1956–1959, Ausst.-Kat. Guggenheim New York/Bilbao/Berlin, Ostfildern-Ruit 1998, S. 29–49, hier S. 38.