Helen Frankenthalers Fallen Angel entfaltet sich auf einem dunklen Grund, der subtil zwischen elementaren Farbtönen changiert. Darüber schleuderte sie in kräftigen Gesten rote, gelbe, orangefarbene und weiße Schlieren. Die Komposition wirkt nächtlich-galaktisch, kraftvoll und zugleich unruhig. Die Bewegung und Zufälligkeit der Farbschleudern erinnern an den Automatismus der amerikanischen abstrakten Maler:innen der Nachkriegszeit, bei dem der freie, unbewusste Geist die Kontrolle im Atelier übernimmt. Vor allem Jackson Pollock machte sich diese Technik in seinen Action-Paintings zunutze. Im selben Jahr richtete das Centre Pompidou in Paris eine große Pollock-Retrospektive aus, die Frankenthaler erneut eine Anregung geboten haben mag.
Helen Frankenthaler (1928–2011)
Fallen Angel, 1982
Aktuell ausgestellt: Ja (Helen Frankenthaler moves Jenny Bronsinksi, Ina Gerken, Adrian Schiess)
					Material: Acryl auf Leinwand
					Größe: 175,5 x 247,8 cm
					Inv-Nr.: B_477											
Bildrechte: VG Bild-Kunst, Bonn; Copyright: Helen Frankenthaler Foundation, New York									
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Als Helen Frankenthaler Pollocks Werke in den 1950er Jahren zum ersten Mal sah, faszinierte sie das raumgreifende Gefühl, als ob die Bilder „keine Ränder hätten und er mit seinem wohlgeordneten Tanz immer weiter fortfahren und weitermalen könne, bis das Gemälde ihm Einhalt gebietet“ . Was sie jedoch in Pollocks Prozess erkannte, war eine Möglichkeit, den Gegensatz von Farbe und Linie aufzuheben und beide Elemente auf völlig neue Weise zu verbinden. Frankenthaler grenzte sich jedoch bewusst von Pollocks Methode ab: „Ich selbst war nie, um Harold Rosenbergs Begriff zu verwenden, ein ‚Action-Painter‘. Ich wollte keine heftigen Gesten oder Pinselstriche vorführen. […] Ich habe mich immer mit einer Malerei beschäftigt, die die flache Oberfläche betont und sie dann wieder negiert“, erklärte sie 1997 in einem Interview mit Julia Brown.
Frankenthaler übernahm Pollocks Gestik nicht wörtlich – für sie war das Tropfen „ein langweiliger Unfall“. Doch sie erkannte darin die Möglichkeit, Farbe und Linie auf neue Weise zu verbinden. Fallen Angel greift diesen Ansatz auf, jedoch in Frankenthalers eigener Handschrift. Wie offen sie mit dem Bildformat und der Orientierung umging, zeigt ein Blick auf die Rückseite: Das Gemälde wurde nachträglich um 180 Grad gedreht. So verbinden sich hier Dramatik und Farbintensität mit einer künstlerischen Freiheit im Umgang mit Form und Komposition.
„Ein Gespräch, Helen Frankenthaler und Julia Brown“, in: After Mountains and Sea: Frankenthaler 1956–1959, hrsg. von Julia Brown, Ausst.-Kat. Guggenheim New York/Bilbao/Berlin, Ostfildern-Ruit 1998, S. 29–49, hier S. 45 f. 46.
Oral history interview with Helen Frankenthaler by Barbara Rose, 1968, S. 8. Archives of American Art, Smithsonian Institution, URL: https://www.aaa.si.edu/download_pdf_transcript/ajax?record_id=edanmdm-AAADCD_oh_212046 (Zugriff: 21.10.2025).