Das Auge schweift nach oben, dorthin, woher das Licht kommt. Was auf den ersten Blick endlos erscheint, misst tatsächlich knapp 14 Meter – so hoch ist der höchste Raum im Museum Reinhard Ernst. Über das große Oberlicht strömt weich und gedämpft Helligkeit ein, gefiltert durch Aluminiumlamellen. Vor kurzem wurde das Gerüst abgebaut, das monatelang fast den gesamten Ausstellungsraum ausfüllte. Nun ist die vom Museumsteam liebevoll getaufte „Kathedrale“ leer, und eine andächtige Ruhe macht sich breit.
„Die Höhe war nicht das Problem“, sagt Mark Fahlbusch, projektleitender Partner beim Bauingenieur-Büro Bollinger + Grohmann und Professor für Tragwerkslehre, Baukonstruktion und Entwerfen an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden. „Das Problem war die Auskragung. Dieser Saal schwebt in der Luft.“
Und tatsächlich bildet der Ausstellungsraum einen der vier Quadranten des Museumskörpers, die weit über das Sockelgeschoss hinausragen. Der Raum scheint auf einer Glasfassade zu ruhen, was dem leuchtendweißen Bau eine einzigartige Leichtigkeit verleiht. Diesen Eindruck der Schwerelosigkeit zu erzeugen – und damit den Wunsch des Architekten ohne Zugeständnisse zu erfüllen – ist eine Herausforderung für jeden Tragwerkplaner. Die Besonderheit liegt darin, dass der architektonische Entwurf von Fumihiko Maki keine tragenden Säulen und Stützen vorsieht. Dazu kommt, dass jeder der neun Ausstellungssäle unterschiedliche Dimensionen hat – keine Wand steht auf der anderen.
Eine etwa zweieinhalbjährige Planungsphase ging der Umsetzung voraus, berichtet Mark Fahlbusch. Er arbeitet seit 18 Jahren bei Bollinger + Grohmann und bringt viel Erfahrung mit. Aber die Berechnung dieser Konstruktion habe die vorangegangenen Projekte bei weitem übertroffen „Das ist die Krönung der Komplexität“, so Fahlbusch.
Auf dem computergestützten 3-D-Modell ist zu erkennen, dass der Ausstellungsraum an zwei jeweils 30 Meter langen Wandscheiben aufgehängt ist; sie werden durch querliegende Stützwände abgefangen.
Die 50 cm dicken Betondecken sind mit Hohlkörpern ausgestattet, sogenannte Cobiax-Decken. Sie gewährleisten maximale Tragfähigkeit bei geringem Eigengewicht.
Eine riesige, rote Stahlkonstruktion stützte den Quadranten während des Rohbaus ab. Mittlerweile ist sie längst verschwunden, und man sieht, dass dieser Kubus wirklich „schwebt“. Insgesamt wurden über zweitausend Tonnen Stahl im Museum verbaut. Das entspricht etwa der Hälfte des Materials, das für die Konstruktion des Tokyo Towers notwendig war, einem der architektonischen Wahrzeichen der japanischen Metropole.
Wer die „Kathedrale“ in Zukunft betritt, wird sich ganz dem Kunstgenuss hingeben können. Und das fantastische Raumgefühl genießen. Das komplexe Tragwerk im Hintergrund bleibt den Betrachter:innen verborgen.
Fotos: Marburger u. Helbig