Gespräch mit Architekt Michel van Ackere

21.09.2021

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Nach dem Lockdown mit seinen monatelangen Einschränkungen im Flugverkehr konnte Michel van Ackere – Projektleiter für das Museum Reinhard Ernst im japanischen Architekturbüro Maki and Associates – endlich wieder nach Wiesbaden reisen. Normalerweise wäre er alle sechs Wochen auf der Baustelle gewesen, undenkbar in Corona-Zeiten mit zweiwöchiger Quarantäne. Nun aber überzeugte er sich vor Ort vom plangemäßen Baufortschritt – und stellte sich für ein Interview zur Verfügung.

Lieber Herr van Ackere, herzlich willkommen in der Landeshauptstadt! Wie gefällt Ihnen Wiesbaden?

Sehr gut! Ich habe hier in den letzten Jahren immer wieder viele Tage verbracht. Schließlich war unser architektonischer Anspruch, dass sich der neue Museumsbau an seinem Platz in das Stadtbild einfügt. Deswegen musste ich intensiv recherchieren und hatte Zeit, mich mit Wiesbaden näher zu beschäftigen.

Zum Bau kommen wir gleich. Aber zunächst zu Ihnen: Erzählen Sie uns von sich. Welchen Lebensweg haben Sie genommen, bis Sie in Tokio beim berühmten Architekten Fumihiko Maki gelandet sind?

Wie mein Name vermuten lässt, liegen meine familiären Wurzeln in Europa. Meine Eltern sind in den fünfziger Jahren aus Belgien in die USA emigriert. Ich kam in Poughkeepsie zur Welt, einem kleinen Ort im Bundesstaat New York. Zuhause sprachen wir eine Mischung aus Französisch und Englisch. Meine Mutter Huguette war Pianistin, mein Vater Albert Sänger. Beide arbeiteten als Musiklehrer am Vassar College, wir wohnten direkt auf dem Campus. Damals wurde auf dem Gelände viel gebaut, als Kind habe ich die Errichtung neuer Schulgebäude mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Und auch die Bibliothek war in einem beeindruckenden Haus untergebracht. Schon als kleiner Junge wusste ich, dass ich Architekt werden will!

Welchen Ausbildungsweg haben Sie dann genommen?

Meine Studienzeit begann an der Brown University in Providence, dort studierte ich Architekturgeschichte. Parallel belegte ich Kurse an der Rhode Island School of Design, um meine theoretischen Kenntnisse durch das Erlernen praktischer Methoden zu ergänzen. Auch ein einjähriges Auslandssemester in Dänemark ermöglichte mir, meine gestalterischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Weil so ein Studium in Amerika ziemlich teuer ist, habe ich mir als Tellerwäscher und Burger-Brater etwas dazuverdient. Nach vier Jahren erhielt ich mein Bachelor-Degree und sammelte als junger Absolvent drei Jahre Berufserfahrung in einem Architekturbüro.

Wie ging es dann weiter?

Für mein Architektur-Masterstudium bewarb ich mich an der Harvard University, dort musste ich eine Mappe mit Entwürfen einreichen. Damals war das natürlich alles handgezeichnet, es gab noch keine Computer. Zu meinem großen Glück konnte ich mir einen Studienplatz in der Eingangsklasse mit ca. 50 Studentinnen und Studenten sichern! Gerne denke ich an diese Zeit zurück. Ein besonders guter Lehrer war der Architekt Mohsen Mostafavi, der später sogar zum Dekan der Harvard Graduate School of Design ernannt wurde.

Harvard zählt sicherlich zu den besten Hochschulen der Welt. Verfolgten Sie danach einen konkreten Karriereplan?

Mit so einem Plan musste ich mich zunächst nicht beschäftigen, denn die Harvard University bot mir – als Belohnung für meinen guten Studienabschluss – im Rahmen eines Fellowships ein mehrmonatiges Projekt im Ausland an. Ausgestattet mit Geldern der Hochschule durfte ich an der Kyoto University zu Machiyas forschen. Das sind traditionelle japanische Stadthäuser aus Holz. Die japanische Kultur hat mich fasziniert, ich fühlte mich im Land wohl. Und weil die Aussicht auf einen Job in den Vereinigten Staaten aufgrund der wirtschaftlichen Situation zu diesem Zeitpunkt eher schlecht war, bewarb ich mich nach dem Ende des Forschungsprojekts im Architekturbüro von Itsuko Hasegawa in Tokio. Dort arbeitete ich zwei Jahre und war an der Gestaltung sowie an der Baubetreuung eines kleinen Museums beteiligt.

Und dann heuerten Sie bei Fumihiko Maki an?

Ja. Makis Arbeit hatte ich schon immer bewundert, ich wollte unbedingt von und bei ihm lernen. Er ist übrigens selbst Alumnus der Harvard University, und seine Frau besuchte das Vassar College in meiner Heimatstadt Poughkeepsie. Bei der ersten Bewerbung bin ich noch abgeblitzt, im zweiten Anlauf klappte es dann. Und im nächsten Jahr feiere ich meine 25-jährige Betriebszugehörigkeit!

Referenz von Maki and Associates: Das Annenberg Public Policy Center der University of Pennsylvania, eröffnet im Jahr 2009 (Foto: Jeffrey Tortaro)

 

Referenz von Maki and Associates: das 2015 im indischen Patna eröffnete und mit dem Nachhaltigkeitspreis GRIHA ausgezeichnete Bihar Museum (Foto: Ariel Huber)

An welchen Projekten waren Sie beteiligt, bevor Sie am Museum Reinhard Ernst mitgewirkt haben?

Oh, das waren viele! Beispielhaft kann ich einige Kulturbauten nennen, zum Beispiel das Annenberg Public Policy Center an der University of Pennsylvania, das Gebäude für die Jewish Community of Japan oder das Bihar Museum im indischen Patna. Natürlich muss auch das „Haus der Hoffnung“ in Natori erwähnt werden. Diese Begegnungsstätte entstand nach dem Tsunami als Idee vom Ehepaar Ernst in Zusammenarbeit mit ihrem Freund Fumihiko Maki und wurde 2012 eröffnet. Bei dieser Gelegenheit lernte ich erstmals Sonja und Reinhard Ernst kennen, die mit ihrer Stiftung die Finanzierung des Hauses ermöglichten.

Zwei langjährige Freunde: Architekt Fumihiko Maki (Bildmitte) und sein Freund Reinhard Ernst (Bildmitte, von hinten) – jeweils mit roter Blume – auf einem Schnappschuss im „Haus der Hoffnung“

Wann ging es dann mit dem Museum in Wiesbaden los?

Eigentlich war das Museum Reinhard Ernst ja für einen Baugrund in der Nähe von Limburg gedacht. Dafür entwickelten wir 2007 unseren ersten Entwurf, doch die Realisierung kam dort nicht zustande. Stattdessen bot sich eine neue Gelegenheit in Wiesbaden. Uns als Architekten gefiel die innerstädtische Lage viel besser, auch für Besucherinnen und Besucher ist der Ort direkt an der Wilhelmstraße sehr attraktiv. Aber natürlich mussten wir für die neue Situation einen ganz neuen Plan erstellen, dafür haben wir die Architektur Wiesbadens und die direkte Umgebung des Museums genau studiert. 2011 präsentierten wir den Entwurf erstmals vor dem Gestaltungsrat, das positive Feedback der Architekturexperten, aber auch aus dem Rathaus und von der Bürgerschaft hat uns natürlich sehr gefreut.

Museum Reinhard Ernst: Handskizze von Fumihiko Maki

Wie würden Sie die Arbeitsteilung beschreiben?

Von Fumihiko Maki stammt der Entwurf des Museums, der Bau trägt sehr deutlich seine Handschrift. Bei der Gestaltung stimmte er sich intensiv mit Reinhard Ernst ab, der ein anspruchsvoller, kenntnisreicher Bauherr ist und ebenfalls Ideen beisteuert. Als Projektleiter bin ich ebenso für Design wie für Organisation zuständig und mit keinem sonstigen Projekt unseres Architekturbüros beschäftigt – meine Zeit widme ich alleine dem Museum Reinhard Ernst. Dabei unterstützen mich im Büro Maki Associates aktuell der Geschäftsführer Yukitoshi Wakatsuki sowie die Architekten Ikuko Wada und Azusa Ino. Zum anderen stehe ich natürlich in enger Verbindung mit den Ansprechpartnern des Frankfurter Architekturunternehmens schneider + schumacher, die hier in Wiesbaden für die Umsetzung unserer Pläne verantwortlich sind.

Erzählen Sie uns bitte etwas zum Museum und seinen Besonderheiten.

Wegen seiner zentralen Stadtlage muss sich das Museum gut in sein Umfeld einfügen. Wir haben den Baukörper in vier Blöcke unterteilt, die vorderen beiden Blöcke greifen die Villenbebauung im weiteren Verlauf der Wilhelmstraße auf. In unserer Achitektur spiegeln wir die Proportionen dieser Villen wider. Das Museum Reinhard Ernst ist dabei etwas höher als das Landesmuseum, aber niedriger als die gegenüberliegenden Altbauten.
Die wertvollen Gemälde im Haus müssen vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt werden, daher darf es in den Ausstellungsräumen keine großen Wandfenster geben. Dennoch wollten wir, dass viel Helligkeit ins Gebäude dringt. Aus diesem Grund ordnen sich die vier Gebäudeteile um einen zentralen Innenhof an, der alle Bereiche großzügig mit Licht versorgt. Wenn man das Museum Reinhard Ernst betritt, wird man über die helle Gesamterscheinung sicher sehr erstaunt sein. So einen Innenhof finden Sie auch im Aga Khan Museum in Toronto, das unser Büro entworfen und gebaut hat.
International betrachtet gibt es in Deutschland vergleichsweise strenge Vorgaben, wenn es um den Aspekt der Nachhaltigkeit geht. Darauf können die Deutschen durchaus stolz sein, auch wenn das Bauen dadurch teurer wird. Sowohl dem Bauherrn als auch uns war es wichtig, so viele deutsche Betriebe und Materialien wie möglich in das Bauvorhaben einzubeziehen. Reinhard Ernst ging in vielen Punkten auch über die gesetzlichen Anforderungen hinaus, was man alleine am „grünen“ Dach mit seinen Photovoltaik-Panels sehen wird.
Wiesbaden ist – von der architektonischen Perspektive betrachtet – eine „Steinstadt“. Deswegen erschien es uns unangemessen, dem Museum eine Haut aus Metall oder Holz zu geben. Gleichzeitig wollten wir auch nicht beige oder braune Steine verwenden, sondern einen eigenen Charakter vermitteln. Für die Fassade haben wir in Absprache mit Reinhard Ernst deshalb ganz besonderes, strahlend weißes Granit ausgewählt. In diesem konkreten Fall mussten wir einen Kompromiss in Bezug auf die ansonsten kurzen Transportwege machen, denn so ein spezieller Stein ist in Europa nicht zu finden.

Museum Reinhard Ernst: Frühe Computervisualisierung der Frontseite

Die Fassadenteile werden aktuell montiert, auf das Granitkleid kann man also gespannt sein. Wie würden Sie das Museum im Inneren beschreiben?

Das Erdgeschoss wird offen und einladend wirken. Besucherinnen und Besucher verlieren durch den großen Innenhof nie die Orientierung. Man kann sich im Museum frei bewegen; es gibt keine Vorgabe, in welcher Richtung man durch das Haus laufen soll. Anders als in vielen anderen Museen fühlt man sich niemals verloren oder denkt, man „laufe verboten“. Allein mit diesem Thema und der Anordnung der Räume haben wir uns monatelang beschäftigt.
Weil ganz spezielle Kunstwerke in verschiedenen Proportionen ausgestellt werden, gibt es im Museum sehr große und hohe, aber auch kleinere Räume. Zwischen den vier genannten Gebäudeteilen wird man durch fünf Meter breite und ca. zehn Meter hohe Fenster auf die städtische Umgebung schauen können.
Die Blickachsen im Museum sind frei. Trotz großer räumlicher Spannweiten gibt es keine Säulen, die die Sicht versperren. In unserem ersten Modell waren noch Stützen eingeplant; den Tragwerksplanern gaben wir dann die Aufgabe, alle Stützen zu entfernen. Das war eine echte Herausforderung, die aber durch die Experten des Ingenieurunternehmens Bollinger + Grohmann erfolgreich bewältigt wurde. Nur im Museumsbüro steht eine einzelne Säule – die musste aus statischen Gründen bleiben. Man sollte vielleicht bemerken, dass wir gerade in Bezug auf die Statik extrem verantwortungsbewusst planen. Das liegt daran, dass sich in Japan häufig Erdbeben ereignen. Deswegen ist besondere Stabilität ein wichtiger Faktor unserer Arbeit.

Museum Reinhard Ernst: Frühe Computervisualisierung des Eingangsbereichs

Wie lief die Abstimmung zum Bauprojekt während der Corona-Zeit?

Sehr gut, aber ich bin froh, dass ich jetzt wieder reisen kann. Gerade haben wir einen Besuch bei einem Unternehmen in Stolberg unternommen, um uns für das Museum Terrazzoböden anzuschauen. Natürlich kann ich mir Proben nach Japan schicken lassen. Aber direkt beim Hersteller blickt man auf eine viel größere Auswahl und kann im gemeinsamen Gespräch sogar neue Produktideen entwickeln. Oder wenn man in einer Aufzugskabine steht, stellt man bei der Betrachtung der Details Dinge fest, die noch optimiert werden können. Per Videokonferenz ist das nur schwer möglich. Die Zusammenarbeit im Team funktioniert auch noch einmal besser, wenn man sich persönlich begegnet.

Als Partner im Architekturbüro von Fumihiko Maki sind Sie aktuell nur mit dem Museum Reinhard Ernst beschäftigt. An welchen Projekten arbeiten Maki und sein Team derzeit noch?

Ein Kunstmuseum in der japanischen Stadt Tottori befindet sich aktuell in der Planungsphase. An der Universität Keiō bauen wir derzeit ein Studentenwohnheim. Das Team ist außerdem mit drei Wolkenkratzern beschäftigt – in Tokio, Singapur und Manila.

Eines der berühmtesten Gebäude von Pritzker-Preisträger Maki aus jüngerer Zeit ist sicherlich das 300 Meter hohe „4 World Trade Center“ in New York City, das 2013 als erstes Haus auf dem Gelände von Ground Zero eröffnet wurde. Wie viele Bauten hat Ihr Büro eigentlich in Deutschland errichtet?

In München hat Maki Associates einen Büropark geplant, der Mitte der neunziger Jahre fertiggestellt wurde. 2001 folgte die Eröffnung eines von uns entworfenen Bürogebäudes im Düsseldorfer Hafen. Das Museum Reinhard Ernst ist unser dritter Bau in Deutschland.

Es gibt – zugegebenermaßen wenige – Menschen, die sehen aktuell den Rohbau mit seiner noch unverkleideten Fassade und sagen: So ein Betonklotz, das ist doch nichts für die Wilhelmstraße!

In Japan würde man ein Haus mit einer solchen Bedeutung komplett einrüsten, mit einer Abdeckung verhüllen und den Blick auf das Gebäude erst nach seiner Fertigstellung ermöglichen. Der Sichtschutz verschwindet dann zum Zeitpunkt der Eröffnung – wie bei einem Weihnachtsgeschenk, das man zum Fest feierlich auspackt. Dann würden sich viele Zweifel und Fragen während der Bauphase gar nicht erst ergeben. In Deutschland ist diese Verhüllung bis zum Schluss nicht üblich, außerdem wäre das natürlich mit enormen Zusatzkosten verbunden. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Wiesbadener Bürgerinnen und Bürger sehr glücklich mit dem Ergebnis sein werden!

Vielen Dank für diesen positiven Ausblick, lieber Herr van Ackere! Wie hat Ihnen übrigens während unseres Gesprächs die Frankfurter Grüne Soße geschmeckt?

Ausgezeichnet! So etwas bekomme ich in Tokio nicht.