Innerhalb der Schaffensprozesse der abstrakten Kunst nach 1945 spielt die impulsive Geste von Künstler:innen eine zentrale Rolle. Doch ist es ebenso möglich, die scheinbaren Widersprüche von Spontanität und Kalkulation in einem abstrakten Werk zu vereinen? In diesem Beitrag erfahren Sie mehr über den einzigartigen Schaffensprozess des deutsch-französischen Malers Hans Hartung (1904–1989).
Am 21. September 2024 jährt sich Hans Hartungs Geburtstag zum 120. Mal. Bereits in seiner Kindheit zeigte sich eine Neigung, die seine spätere künstlerische Ausdrucksform maßgeblich prägen sollte. Als Grundschüler begann Hans Hartung (1904-1989), abstrakte Bilder in Hefte zu malen, um seine Angst vor Blitzen zu bewältigen: „Ich wollte ihr Zickzack nachzeichnen noch bevor es donnerte – dadurch bannte ich den Blitz“ (1). Diese frühe Auseinandersetzung mit der Flüchtigkeit des Moments beeinflusste seine Gestik: „Sie gaben mir ein Gefühl für die Schnelligkeit des Strichs und die Lust, mit dem Stift oder dem Pinsel den Augenblick einzufangen. Sie haben mich das Drängende der Spontanität gelehrt (1).“
Beschäftigt man sich mit Hartungs Œuvre, stößt man häufig auf die schnell gesetzten Liniaturen, die auf den ersten Blick einen Eindruck von Spontanität vermitteln. Doch Hartungs eigene Beschreibung des vermeintlich einfachen, senkrechten Strichs offenbart eine subtile kalkulierte Herangehensweise im Malprozess: „Man muss sich vorstellen, die Leinwand ist sehr groß. Und es muss in einem einzigen Zug gelingen. […] Man braucht ein genaues Gespür für die Richtung. Dann kommt der Moment, in dem nichts schiefgehen darf […]. Entweder man verpatzt es oder es gelingt (2)“, erklärte Hartung.
Bis in die zweite Hälfte der 1950er-Jahre folgte Hartung während seines Schaffens einem bestimmten Ablauf: Er fertigte zunächst eine kleine Tuschezeichnung an, die später als Grundlage für ein Ölgemälde diente. Hier zeigt sich die kalkulierte Seite seiner Kunst. Später begann er mit Industriefarben direkt auf der Leinwand zu arbeiten.
Hans Hartung, T 1971-H15, 1971 ©Courtesy of Tajan
Ein exemplarisches Werk aus dieser Phase ist T 1971-H15, welches sich in der Sammlung Reinhard Ernst befindet: Drei Schwünge in Gelb, Schwarz und Blau treffen sich in der oberen rechten Bildecke, überlagern einander und bilden eine kuppelartige Form. Auf ihrem Weg zum unteren Rand der Leinwand fächern sie sich breit aus. Die gestischen Pinselstriche wirken kraftvoll und zügig ausgeführt, zugleich entschlossen und kontrolliert gesetzt – keine Spritzer, keine laufende Farbe.
Mit Gewissheit können wir sagen, dass Hans Hartung es geschafft hatte, das Spontane und Kalkulierte in seinen Werken zu vereinen. Während die Schnelligkeit und Direktheit seiner gestischen Malerei auf eine impulsive Herangehensweise hindeuten, zeugen Präzision und Überlegung, mit der er seine Werke schuf, von einer Auseinandersetzung mit Form und Technik. Beide Elemente – das Spontane und das Kalkulierte – prägen so die außergewöhnliche Bildsprache des Künstlers.
(1) ARTE (2019): Hans Hartung – Malen so schnell wie der Blitz, Min. 01:53-02:10.
(2) ARTE (2019): Hans Hartung – Malen so schnell wie der Blitz, Min. 39:42-40:29.
Foto: Monti, Paolo. [Hans Hartung alla Galleria Lorenzelli]. N.p., 1959.