Die Scheibe, die sich aus dem elementaren Farbklecks auf der Leinwand ergab, war für Ernst Wilhelm Nay ideal, um räumliche Relationen in der Zweidimensionalität des Bildes darzustellen. Zunächst kombinierte er die Scheibe mit anderen geometrischen Formen, bevor er sich, wie in Chromatische Scheiben von 1960, gänzlich auf das Motiv konzentrierte.
Aus dieser Serie entwickelte er die sogenannten Augenbilder, von denen er drei großformatige Gemälde für die documenta III 1963 schuf. Insbesondere unter der jüngeren Generation löste Nays prominenter Auftritt eine öffentliche Diskussion über seinen Status als repräsentativer Künstler aus, dem man inhaltsleere Dekoration vorwarf. Dahinter stand ein sich allmählich formierender Zeitgeist, der in der Kunst gesellschaftliche Relevanz und kritische Reflexion des Zeitgeschehens suchte.
Ernst Wilhelm Nay (1902–1968)
Chromatische Scheiben, 1960
Aktuell Ausgestellt: Ja (Raum: The Beat Goes On)
Material: Öl auf Leinwand
Größe: 189 x 341 cm
Inv-Nr.: B_419
Bildrechte: VG Bild-Kunst, Bonn
Schlagworte:
Vorbesitz: Arcandor AG, Hauptverwaltung Essen, 1969; Elisabeth Nay-Scheibler, Essen, 1969; Grisebach, Berlin, 2011; Privatsammlung, Schweiz
Ankauf: Sammlung Reinhard Ernst, Grisebach, Berlin, 2017
Einzelausstellungen:
1973
„Nay“, Kölnischer Kunstverein, Köln; Kunsthalle Bremen, Bremen
1964
„Ernst Wilhelm Nay“, Westfälischer Kunstverein, Münster
1961
„E.W. Nay – Bilder, Aquarelle, Zeichnungen“, Galerie Der Spiegel, Köln
Gruppenausstellungen:
1962
„Große Kunstausstellung“, Haus der Kunst, München
1960
„Arte alemana desde 1945“, Museu de Arte Moderna, Rio de Janeiro, Brasilien
Wie viele Künstler:innen seiner Generation, hat Ernst Wilhelm Nay den Zweiten Weltkrieg als Soldat hautnah miterlebt. Da sein Atelier in Berlin zerstört worden war, zog Nay nach Kriegsende zunächst auf Vermittlung der Galeristin Hanna Bekker vom Rath nach Hofheim am Taunus. Ab den 1950er Jahren war er mit seiner Kunst im Ausland vertreten, etwa auf den Biennalen in Venedig und São Paulo und ab 1955 in Galerie- und Museumsausstellungen in New York. Über die documenta II und eine Reise nach New York im Jahr 1959 lernte er die Werke der Abstrakten Expressionisten kennen. Mit Blick auf die amerikanischen Kolleg:innen schätzte Nay im Jahr 1966 seine künstlerische Relevanz recht selbstbewusst wie folgt ein: „Ich weiß, dass es heute in diesem Sinne nur zwei Maler der Farbe gibt. Sam Francis und Nay. Sam Francis – der emotionelle, Nay der kompliziert europäische, die Fläche als Farbe, die Farbe als Fläche.“ [1]
Angesichts neuer wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnisse Sigmund Freuds, Albert Einsteins und Martin Heideggers in Bezug auf Menschen, Natur und Transzendenz in den 1950er Jahren sah sich der Künstler zunehmend verpflichtet, seine Malerei neu zu begründen. Darauf folgte eine radikale Selbstbefragung: „So fing ich mit sehr harmlosen neuen Versuchen an und stellte fest: Wenn ich mit einem Pinsel auf die Leinwand gehe, gibt es einen kleinen Klecks, vergrößere ich den, dann habe ich eine Scheibe. Diese Scheibe tut natürlich auf der Fläche schon eine ganze Menge. Setze ich andere Scheiben hinzu, so entsteht ein System von zumindest farbigen und quantitativen Größenverhältnissen, die man nun kombinieren und weiterhin zu größeren Bildkomplexen zusammenbauen könnte.“ [2]
Die Scheibe, die sich aus dem elementaren Farbklecks auf der Leinwand ergab, war für ihn ideal, um räumliche Relationen in der Zweidimensionalität des Bildes darzustellen. Zunächst kombinierte er die Scheibe mit anderen geometrischen Formen, bevor er sich, wie in Chromatische Scheiben, gänzlich auf das Motiv konzentrierte. Zwischen 1954 und 1962 untersuchte er in zahlreichen Werken auf Papier und Leinwand die kompositorischen und farblichen Möglichkeiten.
Aus dieser Serie entwickelte er die sogenannten Augenbilder, von denen er drei großformatige Gemälde für die documenta III 1963 schuf, die dort an der Decke präsentiert wurden. Insbesondere unter der jüngeren Generation löste Nays prominenter Auftritt eine öffentliche Diskussion über seinen Status als repräsentativer Künstler aus. Einige warfen ihm sogar inhaltsleere Dekoration vor. So polemisierte Hans Platschek in Die Zeit vom 4. September 1964: „Der Unsinn der Texte, die Unverbindlichkeit der Scheiben hat Methode, wenn nicht gar Raffinement. Will man hierzulande an die Spitze der Ranglisten, so muss ein Bild entstehen, ein Universales, das den Effekt hervorbringt, den der Verbraucher sich wünscht.“ [3] Nays Gemälde sind damit Zeugnis und selbst Zentrum einer fundamentalen Neubewertung von Funktion und Rolle der Kunst im Nachkriegsdeutschland. Immer mehr wurden von der Kunst auch gesellschaftliche Relevanz und kritische Reflexion des Zeitgeschehens gefordert.
[1] E. W. Nay, um 1966, Entwurf einer Rede, in: E. W. Nay, Lesebuch: Selbstzeugnisse und Schriften 1931–1968, hrsg. von Magdalene Claesgens, Köln 2002, S. 280.
[2] E. W. Nay, 1963, in: E. W. Nay, Lesebuch: Selbstzeugnisse und Schriften 1931–1968, hrsg. von Magdalene Claesgens, Köln 2002, S. 246.
[3] Platschek, Hans: „Nays Scheiben – Ein repräsentativer deutscher Maler genauer betrachtet“, in: Die Zeit, 4.9.1964, zit. nach E. W. Nay, 1902–1968, München 1980, S. 253.