Adolph Gottliebs Istanbul (1971) gehört zu den zentralen Werken seiner sogenannten Burst-Serie. Seit Ende der 1950er-Jahre entwickelte Gottlieb diese Bildformel, die auf einer klaren Zweiteilung basiert: Oben eine Kreisform, unten ein gestisch bewegtes Feld. In Istanbul schwebt auf einem weißen Grund ein tiefrot glühender Kreis über einem Wirbel aus weißer Farbe, über den sich teilweise graue Farbspritzer legen. Mit dieser Anordnung reflektiert Gottlieb seine Faszination für das Prinzip der Gegensätze. Es ist die Idee, dass das Universum durch gegensätzliche, aber sich ergänzende Pole geprägt ist. In dieser Konstellation kann das Oben auch das Unten sein und scheinbares Chaos sich zu einem harmonischen Ganzen fügen. Das Ergebnis ist ein dynamisches, weil unbeständiges Gleichgewicht.
Adolph Gottlieb (1903–1974)
Istanbul, 1971
Aktuell ausgestellt: Ja (Zuhause in der Malerei)
Material: Öl auf Leinwand
Größe: 228 x 181,7 cm
Inv-Nr.: B_537
Bildrechte: VG Bild-Kunst
Schlagworte:
Ankauf: Sammlung Reinhard Ernst, 2021
Gottlieb strebte danach, mit seinen Bildern einen plötzlichen, überwältigenden Eindruck zu erzeugen. Sie sollten auf den ersten Blick vollständig erfasst werden können, anstatt durch eine Reihe kleiner Entdeckungen allmählich entschlüsselt zu werden. Dabei hat er wiederholt wörtliche Interpretationen seiner Bilder abgelehnt. Sein Anliegen war die Abstraktion und die starke emotionale Verbindung zwischen nicht wörtlichen Bildern und den Betrachter:innen.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Verbindung zu Helen Frankenthaler. Gottlieb förderte ihr frühes Werk bereits 1950 und beeinflusste damit ihre künstlerische Entwicklung entscheidend. Frankenthaler griff in ihrem Gemälde Green Moon (1984), das zehn Jahre nach Gottliebs Tod entstand, das formale Vokabular der Burst-Serie auf. Mit der schwebenden Kreisform und den gestischen Farbenergien wirkt es wie eine stille Hommage an ihren Mentor.
Entdecken Sie Frankenthalers Green Moon in der Ausstellung Helen Frankenthaler Moves. Ina Gerken hat es für ihre Präsentation im letzten Raum der Ausstellung ausgewählt.
„You take it in its totality, instantaneously, and it’s not something that you look at with an eye for detail […] The important thing is the immediate impact.“ Gottlieb im Interview mit Martin Friedman, August 1962, Tape 2A, Typoskript S. 26, zit. n. Adolph Gottlieb: A Retrospective, Ausst.-Kat. Peggy Guggenheim Collection, Venedig 2011, S. 51.