Die meisten Werke von Helen Frankenthaler sind als Querformat angelegt. Lunar Avenue widersetzt sich einem landschaftlichen Querformat durch das schlanke Hochformat mit vertikal ausgerichteten, gestischen Pinselstrichen. Möglicherweise war das Bild erst als horizontale Komposition gedacht: Kippt man das Werk um 90 Grad nach rechts, ist plötzlich eine abstrahierte Landschaft unterhalb des Mondes, der aus den Farbbahnen herausleuchtet, zu erkennen – ein Verweis auf den Titel Lunar Avenue, der übersetzt etwa Mondlicht-Allee bedeutet.
Helen Frankenthaler (1928–2011)
Lunar Avenue, 1975
Aktuell Ausgestellt: Ja (Raum: Farbe hoch drei)
Material: Acryl auf Leinwand
Größe: 386,5 x 238 cm
Inv-Nr.: B_518
Bildrechte: VG Bild-Kunst, Bonn
Schlagworte:
Vorbesitz: Leo Castelli Gallery, New York; Privatsammlung, Amerikanische Ostküste, ca. 1990er Jahre
Ankauf: Sammlung Reinhard Ernst, Christie’s, New York, 2020
In einem Interview mit Julia Brown sprach Frankenthaler über gegenständliche Assoziationen, die beim Betrachten allein durch die Ausrichtung des Bildformats geweckt werden: „Landschaft ist ein Reizwort für einen abstrakten Maler. Wenn man ein abstraktes querformatiges Gemälde betrachtet, nimmt man mehr oder weniger unbewusst die Natur oder einen Horizont oder eine Aussicht wahr. Man wird wahrscheinlich nicht an eine figurative Anspielung denken, die eher ein Hochformat voraussetzen würde. Wenn man speziell nach Figuren oder Landschaften in abstrakten Bildern sucht, so kann das gelegentlich die Fähigkeit beeinträchtigen, ihre wahre Qualität zu erkennen.“ [1] Lunar Avenue widersetzt sich einem landschaftlichen Aussehen durch das schlanke Hochformat mit vertikal ausgerichteten, gestischen Pinselstrichen. Die Farbbahnen beginnen im unteren linken Teil der Leinwand und erstrecken sich bis in einen offenen Bereich im oberen rechten Bildteil hinein.
Da Frankenthaler ihre Bilder auf dem Boden malte und erst im Anschluss daran über den endgültigen Bildausschnitt und die Ausrichtung entschied, ist es denkbar, dass das Gemälde erst als horizontale Komposition gedacht war. So lehnt es etwa auf einer Studioaufnahme von 1975 um 180 Grad gedreht an der Wand. Kippt man das Werk um 90 Grad nach rechts ist plötzlich eine abstrahierte Landschaft unterhalb des Mondes, der aus den Farbbahnen herausleuchtet, zu erkennen. Es ist der Verweis auf den Titel Lunar Avenue, der übersetzt etwa Mondlicht-Allee bedeutet. Die vertikale Präsentation der Malerei verschiebt die Lesart des Bildes hin zu einer Vogelperspektive mit Blick auf eine Straße oder eines Durchgangs. Ein Jahr später entstand Sea Level, was ebenfalls zur Sammlung von Reinhard Ernst gehört, und als weiteres Beispiel für eine vermeintlich horizontal gemeinte Komposition dient, das tatsächlich aber ein vertikales Gemälde ist.
[1] In: Julia Brown, „A Conversation“, in: After Mountains and Sea: Frankenthaler 1956–1959, New York: Solomon R. Guggenheim Museum, 1998, S. 33/34.